Giovanni Martini mit seinem Eiskarren auf den Straßen Recklinghausens, um 1910.
Repro: Angelo Martini

Ausstellung: Wie das Eis ins Ruhrgebiet kam

Meist lag noch Schnee im Zoldotal, wenn sich Giovanni Martini wie jedes Jahr im Mai auf den beschwerlichen Weg von den Dolomiten ins Ruhrgebiet machte. Seinen Eiskarren hatte er in einem Schuppen in Recklinghausen untergestellt. Von 1903 bis 1913 zog der „Gelatiere“ hier jeden Sommer mit der kalten Köstlichkeit durch die Straßen.

Bochum (lwl). Meist lGiovanni Martini mit seinem Eiskarren auf den Straßen Recklinghausens, um 1910.
Repro: Angelo Martiniag noch Schnee im Zoldotal, wenn sich Giovanni Martini wie jedes Jahr im Mai auf den beschwerlichen Weg von den Dolomiten ins Ruhrgebiet machte. Seinen Eiskarren hatte er in einem Schuppen in Recklinghausen untergestellt. Von 1903 bis 1913 zog der „Gelatiere“ hier jeden Sommer mit der kalten Köstlichkeit durch die Straßen. 100 Jahre später hat das LWL-Industriemuseum den weiß lackierten Holzkarren mit den beiden Silberhauben zurück ins Revier geholt. Er gehört zu den Schmuckstücken der Ausstellung „Eiskalte Leidenschaft“, die der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) vom 14. Juni bis 11. Oktober 2009 in seinem Industriemuseum Zeche Hannover in Bochum zeigt.

Mehr als 150 Exponate machen die Geschichte und Gegenwart der italienischen Eismacher im Ruhrgebiet lebendig. Das Spektrum reicht von Fotografien und Dokumenten über historische Utensilien zur Eisherstellung wie „Eiskocher“, Kühlgeräte, Sahnemaschine und Waffeleisen, ein Notizheft mit Eisrezepten, Schalen und Löffel bis hin zur Einrichtung mit Theke, Tisch und Stühlen des Hagener Eiscafés Venezia aus den 1960er Jahren. Zu sehen auch die obligatorische Gardine, die damals in keiner Eisdiele fehlen durfte und Besucher vor allzu neugierigen Blicken auf das „dolce vita“ schützte. Fotografien aus dem Zoldotal und Exponate wie Schlitten, Schneeschuhe, Nägel und Arbeitsgeräte stehen für die „Winterheimat“ der Eismacher in der Region Veneto, unter deren Schirmherrschaft die Ausstellung steht.

„Eismachen war von Beginn an ein saisonales Gewerbe, das die Familien über Monate auseinander riss. Die Wintermonate verbrachten und verbringen viele Gelatieri bis heute in ihren Heimatdörfern in Italien“, weiß die Ausstellungskuratorin Anne Overbeck vom LWL-Industriemuseum. So zeugen viele der gezeigten Stücke von einem Leben in zwei Ländern und zwei Kulturen.

Anne Overbeck vor dem Eiskarren von Giovanni Martini, mit dem der Italiener Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Straßen Recklinghausens zog. Foto: LWL/HudemannIn fünf Hörstationen kommen die Eismacher und ihre Kunden in der Ausstellung selbst zu Wort. „Mit unserem Themenschwerpunkt Migrationsgeschichte sind wir immer nah bei den Menschen“, erläutert Museumsleiter Dietmar Osses. „In den persönlichen Lebensgeschichten erfahren wir Vieles über den Alltag der Menschen und ihre Erfahrungen als Migranten zwischen zwei Welten“, so Osses weiter.

Weil die Städte im Revier den Straßenverkauf von Eis immer weiter einschränkten, gründeten Italiener in den 1930er und 1940er Jahre die ersten festen Läden. Aus dieser Zeit stammt auch der Name „Eisdiele“. Anne Overbeck: „Da sich viele Gelatieri in den Anfängen keine teuren Lokale leisten konnten, meldeten sie ihre Geschäfte in ihren Wohnungen an und verkauften das Eis aus den Fenstern im Erdgeschoss. Damit die Kundschaft an die Öffnung heranreichen konnte, befestigten sie Holzbretter – Dielen – unter den Fenstern.“ Ein regelrechter Boom der Eisdielen setzte in den1950er Jahren ein. Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und die erste Reisewelle nach Italien kurbelten die Nachfrage an.
Die Traditions-Eisdiele De Lorenzo in Witten in den 1960er Jahren. Foto: privatGegenwärtig befindet sich das Eismacherhandwerk im Wandel. Die traditionellen Familienbetriebe leiden unter Nachwuchsmangel und der wachsenden Konkurrenz durch andere Anbieter. Immer mehr Eisdielen bleiben ganzjährig geöffnet, so dass die Tradition der jährlichen Rückkehr nach Italien schwindet. Mittlerweile wird so manche „italienische Eisdiele“ nicht mehr von traditionsbewussten Eismachern aus dem Zoldo- oder Cadore-Tal betrieben, sondern von Deutschen oder von Zuwanderern aus anderen Regionen Europas.

Parallel zur Ausstellung bietet die Kölner Agentur „fare – event & promotion“ eine Veranstaltungsreihe an. Höhepunkte der Reihe sind eine Thementag rund ums Eis mit dem WDR Funkhaus Europa in der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund (14.6.), die Fachtagung „Eis verbindet? Handwerk und Industrie im Dialog“ in der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund sowie ein Fotowettbewerb rund um das Thema Eis. Die Siegerbilder werden am 30. September 2009 in der Stadtsparkasse Bochum ausgestellt. Weitere Informationen finden sich auf der Homepage www.fareonline.de.

Eine italienische Nacht im Rahmen der Extraschicht – Nacht der Industriekultur (27.6.), der Schul- und Familientag „Pinocchio e la straciatella“ (28.6.), Vorträge und Führungen im Industriemuseum Zeche Hannover sowie eine Filmreihe der Herdecker Filminitiative im Kino Onikon runden das Begleitprogramm ab. Eine komplette Übersicht finden Sie unter www.lwl-industriemuseum.de.

Eiskalte Leidenschaft

Italienische Eismacher im Ruhrgebiet
LWL-Industriemuseum Zeche Hannover
Günnigfelder Straße 251, 44793 Bochum
Geöffnet: Mi – Sa, 14 – 18 Uhr, So 11 – 18 Uhr

Foto1: Repro: Angelo Martini
Foto2: LWL/Hudemann
Foto3: privat

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