„Hilfe, ich vereinsame!“ – Tipps für´s Zuhause Bleiben

Warum Tageslicht, Gespräche und Strukturen jetzt noch wichtiger sind: Prof. Dr. Kantermann im Interview. Einsamkeit – was macht sie mit uns? Worauf sollte ich im Homeoffice und generell in diesen Zeiten achten? Was bewirken Aktionen wie „Kerze im Fenster“ oder gemeinsame Balkonmusik? Und was werden wir in der Zeit „nach Corona“ wohl gelernt haben?

Prof. Dr. Thomas Kantermann, Foto: FOM [FOM] Prof. Dr. habil. Thomas Kantermann ist promovierter Biologe und habilitierte sich in Medizinischer Psychologie. Er ist weltweiter Experte für Human-Chronobiologie und Gründungsmitglied der Daylight Academy. Der 41-Jährige doziert an der FOM Hochschule wissenschaftliche Methoden, Allgemeine und Biopsychologie sowie Gesundheitspsychologie. Im Interview beleuchtet er aus gesundheitspsychologischer Sicht genau die Themen, die momentan wohl so ziemlich jeden betreffen.

Herr Prof. Dr. Kantermann, durch die aktuelle Lage ist die sogenannte „Soziale Distanz“ erforderlich. Was macht diese Distanz mit uns?

Also zunächst muss ich sagen, dass mir das Wording „Soziale Distanz“ missfällt – eigentlich müsste es körperliche oder physische Distanz heißen. Denn sozialer Abstand existiert kaum mehr heutzutage, und wäre in der Auswirkung wohl wesentlich gravierender. Vor 15 Jahren, ohne Smartphones, ohne diesen virtuellen Austausch und Informationsgehalt – da hätten wir von „Sozialer Distanz“ sprechen können. Heute erfahren wir auf unzähligen Kanälen, was wie wo stattfindet, tauschen uns per Videocall, WhatsApp & Co aus. Dennoch fühlen sich viele Menschen, insbesondere natürlich die Menschen, die ohnehin isoliert oder depressiv sind, in dieser Zeit einsam: Dem einen fehlen die Arbeitskollegen oder Kommilitonen, dem anderen die Kneipengänge oder einfach ein freundliches Gespräch beim Bäcker. Und keiner von uns weiß, wie lange die momentane Situation andauern wird. Dadurch kann man sich durchaus allein oder in manchen Fällen eben auch einsam fühlen.

Allein und einsam – was ist da der Unterschied?

Der ständige Kontakt mit der Familie zuhause kann für manchen auch Stress bedeuten, wodurch man sich ebenfalls einsam fühlen kann – obwohl sie oder er nicht allein ist. Alleinsein ist ein objektiver Zustand, während Einsamkeit ein subjektives Empfinden darstellt.

Und was hilft bzw. beruhigt? Was können wir alle tun, damit es uns in Quarantäne, im Homeoffice und generell Zuhause gut geht?

Aus Sicht der Chronobiologie ist der zunehmende Aufenthalt in Innenräumen nicht förderlich für unser Wohlergehen. Wir produzieren nicht genug Vitamin D und die innere Uhr kann aus dem Takt geraten. Wenn nicht genug Tageslicht da ist, kann das im schlimmsten Fall zu Gemütsstörungen, Schlafstörungen oder Depressionen führen. Wir brauchen Tageslicht! Denn die Neigungen zum Einsam fühlen werden so nur noch schlimmer. Daher sollten alle, die beispielsweise im Homeoffice arbeiten und die Möglichkeit haben, den Schreibtisch ans Fenster stellen. Jeder sollte so oft es geht raus oder auf den Balkon gehen, falls vorhanden, und die Fenster öffnen! Denn die Wellenlängen für die innere Uhr kommen nicht in ausreichender Menge durch das Glas – sich morgens eine halbe Stunde ans offene Fenster zu stellen, ist schon viel wert. Außerdem ist es extrem wichtig, seine Tagesstruktur aufrechtzuerhalten, denn der Körper braucht eine gewisse Vorhersehbarkeit. Morgens also ganz normal fertigmachen, duschen, rasieren – vielleicht nicht unbedingt mit Schlips und Krawatte zuhause hinsetzen, aber zumindest die morgendliche Routine beibehalten. Außerdem weiterhin regelmäßig Nahrung aufnehmen, zur gleichen Zeit Mittagessen, wie sonst auch. Darüber hinaus ist körperliche Bewegung natürlich sehr wichtig. Es bringt schon was, den Mülleimer in eine andere Ecke des Raumes zu stellen, den Drucker im Nebenraum zu positionieren oder beim Telefonieren hin und her zu laufen. Ebenfalls wichtig: eine räumliche Abtrennung. Nicht da arbeiten oder für´s Studium lernen, wo geschlafen wird – klare Räume schaffen oder zumindest nach der Arbeit alle Bürosachen wegräumen.

Optimal wäre es, alle sieben Tage der Woche gleich rhythmisch zu gestalten – also auch unter der Woche zu der Zeit aufzustehen, die die innere Uhr vorgibt, so wie am Wochenende. Momentan spart sich so mancher ohnehin den Stau auf der A40 – passt sich seiner inneren Uhr mehr an. So wird auch ein „sozialer Jetlag“ vermieden, also die zeitliche Differenz im Schlaf zwischen Arbeitstagen und dem Wochenende. Jetzt ist die Zeit, mehr auf die innere Uhr zu hören und auf die Biologie zu achten. Und was zu guter Letzt natürlich immer wichtig ist: Reden! Manche Menschen kommen mit Stille nicht gut klar – wir alle sollten viel miteinander reden, telefonieren und uns austauschen. Es gibt natürlich nicht das EINE Rezept, das für alle gilt, aber all das sind schon mal Tipps, die jeder beherzigen kann und sollte.

Online werden momentan viele Videos von Balkongesängen geteilt und es finden Aktionen wie „Kerze im Fenster“ statt. Was bewirken solche Aktionen? Ist so etwas auch hilfreich?

Definitiv. Es zeigt: Wir sind zwar vielleicht allein, aber nicht einsam! Wir Menschen sind Herdentiere, wir brauchen Kontakt und wir ticken ähnlich. Aus der Umwelt heraus Solidarität zu erfahren, beflügelt! Es zeigt: Wir sind eins. Da ist ein Nachbarschaftsstreit schnell vergessen, man wird kreativ und lernt Menschen kennen, die man vorher nie beachtet hat. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte, sitzen wir GLOBAL alle im selben Boot und da ist es eben umso wichtiger, nicht schwarz zu denken, sondern aktiv zu bleiben oder zu werden – so klein die Wohnung auch sein mag.

Was glauben Sie, ziehen wir aus dieser Corona-Zeit? Werden wir, wenn all das vorüber ist, etwas gelernt haben?

Auch hier kann die Erkenntnis „Wir sitzen alle im selben Boot“ etwas bewirken. Nach dieser Zeit werden wir hoffentlich feststellen können, dass wir uns aufeinander verlassen können. Es entsteht ein Gefühl von „Wenn wir wollen, können wir gemeinsam etwas schaffen!“ Außerdem wird der Wert der Freiheit, die alltägliche Selbstverständlichkeit der Kontakte, des Ausgehens, des Reisens evtl. wegfallen bzw. wieder mehr wertgeschätzt. Wir leben in einem guten System und müssen uns nicht ständig über alles beschweren. Auch das Thema Flüchtlinge könnte anders angesehen werden. Denn Corona zeigt: Es kann jeden treffen, nur, dass man momentan tatsächlich nirgendwo hin fliehen kann.

Artikel zur Verfügung gestellt von FOM Hochschule

Foto: FOM