20 Tote und mehrere Hundert Verletzte bei der Loveparade 2010 in Duisburg.
Der vergangene Samstag sollte als Bühne für das nächste glänzende Kultur-Highlight im Ruhrgebiet dienen. Im Ruhr.2010-Jahr, unmittelbar nach „Schachtzeichen“ und „Still Leben“, waren es nun die Musikfreunde, die ihrem Event entgegen fieberten. Nach einem Jahr Pause (Bochum hatte bekanntlich 2009 die Loveparade abgelehnt), sollte das Programm in Duisburg mit seinem hochklassigen Aufgebot der top-aktuellen Szene-Musikern sowohl eingefleischte Elektro- und Techno-Fans wie auch „Schaulustige“ begeistern – 1,4 Millionen Menschen kamen aus der Region, ganz Deutschland und der benachbarten Ländern. Alles pilgerte seit den Morgenstunden gen Duisburg, um eine der weltgrößten Partys zu feiern. Für die öffentlichen Verkehrsbetreiber eine stramme Herausforderung, Security und Helfer waren höchst aufmerksam. Das Wetter gut, die Musik laut – allgemein stieg die Stimmung immer weiter an, nachdem um 14 Uhr der Startschuss zur Loveparade gegeben wurde. Auf eine Bebilderung des Artikels haben wir bewusst verzichtet.
Zunächst lief alles – bis auf geringfügige Verspätungen der Bahn – gut. Wer sich in den Nachmittagsstunden aus Richtung Bochum mit der Bahn auf den Weg machte, stand in randvollen Zügen zwischen den euphorischen Fans eng an seine Nachbarn gequetscht, was allerdings auch nicht anders zu erwarten war. Doch als die ersten Züge an den Bahnhöfen ungewöhnlich lange Zwischenstops einlegten und es nicht weiter ging, waren die ersten Probleme in Duisburg aufgetreten. Einige Musikfans hatten der ausgeschilderten Route zum Festivalgelände nichts abgewinnen können und bewegten sich über die Bahngleise auf ihr Ziel zu. So wurde der Bahnverkehr mehrere Male unterbrochen, was nicht nur für die anreisenden Loveparade-Besucher zu teils immensen Verzögerungen führte, sondern vor allem die Deutsche Bahn vor die große Herausforderung stellte, den gewöhnlichen Betrieb aufrecht zu erhalten. Nachdem die Strecke im weiteren Verlauf des Nachmittags lange Zeit als unbefahrbar galt, wurde Plan B aus der Schublade gezogen und via Bustransfer für die Beförderung der Tanzwilligen gesorgt.
Währenddessen schoben sich in Duisburg bereits die Massen vorwärts, das zu allen Seiten beschränkte Gelände erreichte bald sein Fassungsvermögen. Schnell wandelten sich die Minen von ausgelassenen Feiergesichtern zu sorgenvollen Gesichtsausdrücken. Die aufkeimenden Befürchtungen sollten sich bald in tragische Gewissheit wandeln. Im Eingangsbereich brach eine Massenpanik aus – 20 Menschen sind gestorben, mehr als 350 verletzt.
Viele der Zuschauer hatten nichts oder nur bruchstückhaft von den schrecklichen Ereignissen mitbekommen, weshalb große Ratlosigkeit herrschte. Keinem war klar wie es weitergeht. Vor allem die Besucher auf dem Festivalgelände waren ahnungslos. Um eine erneute Panik zu vermeiden und die Innenstadt zu entlasten, wurde die Party fortgesetzt – die Musik dröhnte bis 23 Uhr weiter aus den Boxen. Ein Plan der sich als sinnvoll erweisen sollte, denn es war gelungen eine neue Massenpanik zu vermeiden, obwohl immer mehr der Anwesenden durch Mund-zu-Mund-Nachricht oder ihre Handys vom Unglück erfuhren. Die Handynetze brachen jedoch immer wieder zusammen, weshalb kein stetiger Informationsfluss geschehen konnte.
Bald erreichten die Zuschauermassen den immer wieder für einige Zeit gesperrten Bahnhof. Laut den Einsatzkräften bewegten sich einige Besucher auf den Gleisen – die Züge konnten nur eingeschränkt verkehren, der Rückstau der Wartenden wurde immer größer. Unmut und Ärger kam auf. Viele Menschen steuerten Duisburgs Innenstadt an; da die fatalen Ereignisse des Nachmittags vielen nicht bekannt waren, haben die Menschen weiterhin auf den Straßen gefeiert – eine ungeheuer groteske Situation.
Mittlerweile geistern die Schuldzuweisungen durch die Medien. Das Schockierende ist allerdings, dass bereits im Vorfeld viele Bedenken bezüglich der Sicherheit geäußert wurden, die scheinbar nicht ernst genommen wurden. In den Abendstunden äußerte eine WDR-Moderatorin ihre zwiespältigen Eindrücke der letzten Tage, in denen scheinbar heftige Diskussionen zwischen Organisatoren, Verantwortlichen und Sicherheitspersonal für Gesprächsstoff gesorgt hatten. Vor allem, dass der Bereich um den alten Güterbahnhof zu den Seiten beschränkt war und es nur einen Eingangsbereich, der zugleich auch einen Ausgang darstellte, gab (an dem sich letztendlich das Unglück ereignete), stellt sich im Nachhinein als fataler Fehler heraus. Weder in Dortmund vor zwei Jahren, noch in Essen und Berlin gab es dieses Zusammenpferchen der Raver – für viele Kritikpunkt Nummer eins. War das Problem hausgemacht? Waren Ignoranz und das Verharren auf unsinnigen Bestimmungen der Auslöser dieser Tragödie?
Was bleibt, ist die Frage nach der Schuld. Wer ist schuld und was ist die „angemessene“ Strafe? Die Verantwortlichen werden gefunden und als repräsentative Schuldträger abgeurteilt – das ist nur eine Frage der Zeit. Nur: Wird damit die Frage nach der Schuld geklärt? Liegt sie nicht auf viel zu vielen Schultern? Dabei ist nicht nur an die autorisierte, institutionelle Schuld zu denken, sondern auch an die jedes Einzelnen.
Viele Augenzeugen berichten, dass während sie gegen die Zäune gepresst, kaum Luft bekommen und um ihr Leben gekämpft haben, Polizeibeamte zuschauten, aber die Zäune trotz verzweifelter Aufforderungen nicht entfernten. Grund: Sie waren nicht befugt. An dieser Stelle sind die Verhaltensvorgaben der Beamten in Frage zu stellen. Ab welchem Moment der funktionalen Differenzierung muss der gesunde Menschenverstand und die persönliche, individuelle Verantwortung die Oberhand in einem Ausnahmezustand gewinnen, um Menschenleben zu retten? Ab wann ist der Mensch dazu aufgefordert in erster Linie ein Mensch zu sein, ein Mensch mit einem autonomen Handlungsvermögen und Entscheidungspotential.
Eins ist bereits jetzt klar: Die für 2011 angesetzte Loveparade in Gelsenkirchen wird nicht stattfinden, eine Fortsetzung der Musikveranstaltung wird es nicht geben. Die Veranstaltung wie die Loveparade, die eine so großartige positive Stimmung und grenzenlose Begeisterung versprach, muss auf diese grauenvolle Weise zu einem Ende finden.
Unser aufrichtiges Beileid gilt allen Angehörigen und Freunden der Opfer.
(mo), (yb)