„Expect the unexpected“: Das Wahnsinns-Wochenende ging am Samstag in die dritte Runde. Bei allerbestem Programm war es nicht nur rappelvoll in der Bochumer Innenstadt, sondern auch noch einmal eine Spur deftiger, denn das Schattenreich hatte die Ring-Bühne übernommen. Eisheilig, Jesus on Extasy, XPQ-21 und Melotron sorgten für düstere Stimmung, Sono, Kate Mosh, Lost Alone und Dog Eat Dog waren die absoluten Top Acts.
[ruhr-guide] Mit müden Füßen schleppte man sich nach dem Party- und Tanzmarathon der vorangegangenen Nacht schnell zum Einkaufen in die Innenstadt, da erblickte der wachsame Beobachter einen geschäftigen Wolfgang Wendland, Sänger der Satire-Punkband Die Kassierer, der eiligen Schrittes in Richtung HEiNZ-Bühne lief. An dessen Fersen geheftet, gab es hier auf dem leeren Parkplatz außer den geschlossenen Bierwagen nicht viel zu sehen. Nur auf der Bühne tat sich etwas. Da wurde eine junge Dame in Alufolie eingewickelt, ein junger Mann in einen Handy-Roboter verwandelt und plötzlich erklang eine liebliche Melodie aus den Boxen, Elektrosound mit einem schräg bekloppten Text, „Liebesbrief per sms“, die so gar nicht zum raubeinigen Wölfi passen wollte. Dieser griff dann plötzlich zur Filmkamera, die Situation verlangte nach Aufklärung. Auf unsere Fragen wurde jedoch ausgewichen. „Das ist hier ein neues Projekt, es geht um Bochum. Mehr wird nicht verraten!“ Immer und immer wieder dröhnte der inzwischen zum Ohrwurm mutierte Song über den Song, die Protagonisten auf der Bühne hielten sich tapfer an die ausgetüftelte Choreographie von Songschreiber Volker Wendland und performten jeden weiteren Take zum Vollplayback, die angeheuerten „Fans“ vor der Bühne tanzten auf Anweisung kräftig mit. Dann war alles ganz schnell vorbei, alle Beteiligten verschwanden genauso schnell wieder, wie sie diesen Filmdreh hier absolviert haben. „Pass beim Ausziehen mit dem Roboter auf, der wird noch im dritten Reich gebraucht!“ – auf das Ergebnis dieser Aktion darf man mehr als gespannt sein.
Am Nachmittag ist der Blick in Björn Büttners Gesicht stets Maßstab. Und heute strahlte der Festivalsprecher, denn an den ersten beiden Tagen waren knapp 450.000 Besucher zu Bochum Total gekommen, die Sonne schien weiterhin gnadenlos, alles lief perfekt. Der Samstag ist stets der Familientag bei Bochum Total, und so bekamen die kleinsten Besucher bisweilen große Augen im Angesicht der zum Teil sehr wild gewandeten Gäste – Schwarz war die Farbe des Tages, viel Haut wurde gezeigt, stacheligste Piercings zur Schau getragen. Und so warteten bereits zum Start um 17.00 Uhr vor der Schattenreich- Bühne die Paradies- vögel aus NRW auf den Auftritt von Eisheilig, die mit ihrem harten Gitarrensound und dem düsternen Gesang den Südring in einen gothischen Tanztempel verwandelten. Dagegen beinahe harmlos ging es auf und vor der EinsLive-Bühne zu, wo Voltaire zum Auftakt gnadenlos guten Gitarrenpop spielten. Mal introvertiert – oder doch verträumt? – war es für viele Besucher der passende Start in den Festivaltag: „Heute ist jeder Tag“!
Wenn für Bochum Total ein Etikett auf keinen Fall gilt, ist es „klein“! Auch wenn Small is beautifull etwas anderes behauptete. Auf der WAZ-Bühne am Konrad-Adenauer-Platz nahm das Trio gemütlich Platz und spielte wunderbare Coverstücke von Kylie Minogue bis zu den Sugarbabes, von Alanis Morissette bis zu U2. Dreistimmig, beinahe in der Nähe des Chansons anzusiedeln, dabei angenehm reduziert auf das Wesentliche, verzauberte vor allem die elfenhafte Sängerin Minerva Diaz die großen und kleinen Gäste. Verspielt dagegen, aber auf eine gänzlich andere Art und Weise ging es dann bei XPQ-21 ab. Weiß geschminkte Typen treten da vor das begeisterte Publikum, Attitüde und ein gekonnter Stilmix aus hämmernden Technobeats und Punk, sorgten für ausgelassene Partystimmung. Bei der kraftvollen und ausdrucksstarken Bühnenshow und in Angesicht einer strahlenden Sonne schmolz nicht nur die weiße Farbe in den Gesichtern der Musiker, auch die anwesenden Damen erfreuten sich beim Anblick der Band um Jeyênne, der in den frühen 90er Jahren einen der ersten Technohits „XPQ-21“ verbrochen hat. Dass er heute noch ebenso gnadenlos ins Mikro brüllen kann und seine Fans mit dem wahrhaftigen Punk terrorisiert, demonstrierte er gekonnt bei Bochum Total.
Für Einige das beste Konzert von Bochum Total fand zur selben Zeit auf der HEiNZ-Bühne statt, wo das Ruhrgebiet den besten Indie-Rock seit Sharon Stoned erleben durfte. Die Ähnlichkeit besteht da nicht nur im Namen, sondern ist auch im Sound zu finden. Wunderbar krumme Takte, fern des sonstigen SchreiCore-Auf-die-Fress-Rock, irritierte der Vierer wunderbar durch ruhige Momente und die Verweigerung von Aufforderungen à la „Los, toben!“. Die Retter des Indie-Rock, die Ritter der Dissonanz, spielten ein einmaliges Set gegen den Einheitsbrei.
Einen sehr viel kleineren Rahmen hatten sich Alpha Boy School für ihr traditionelles Indoor-Konzert bei Bochum Total ausgesucht. Hatten die Bochumer Ska-Helden in den Jahren zuvor den Kultimbiss „Rösti“ in einen Hexenkessel verwandelt, ging es in diesem Jahr im Freibeuter mächtig zur Sache. Klar, dass es da kein Vor und Zurück gab, der fehlende Raum wurde einfach ignoriert, so dass die Kneipe aus allen Nähten platzte, und getanzt wurde als gäbe es kein morgen. Diese Mini-Gigs von Karsten Riedel & Co. sind so kultig wie das im Freibeuter angebotene Astra Bier, und dabei gibt es den großen Auftritt doch erst am Sonntag zu erleben!
Ska vs. Synthiepop – die Vielfalt des größten Open Air-Festival Europas macht einen solchen Mix immer wieder möglich. Auf der Ring-Bühne zeigten Melotron dem Schattenreich- Publikum, wo es lang geht. Dabei erinnert ein Blick auf ihre Songtitel eher an ein Schlagerfestival der Liebe, als es die eindeutig zweideutigen Anspielungen des betont dandyhaften Sängers Andy Krüger vermuten lassen. Neben „Blauer Planet“ von Karat gaben Melotron Eigenkompositionen sowie weitere Coverstücke im besten 80er-Synthesizer-Sound. Headliner-Zeit auch auf der EinsLive-Bühne: Mark Gibson,
Steven Battelle und Tom Kitchen waren schon einen Tag zuvor nach Bochum gereist und zeigten sich begeistert von der Stimmung in der Stadt. Herzergreifende Melodien, melancholischer Gesang mit einer Stimme die an Brian Molko von Placebo erinnerte, dann wieder eine kreischig schreddernde Gitarre – Härte und Harmonie gab es hier zu hören. Dank des vielgehörten Senders NRWs waren Lost Alone hierzulande keine Unbekannten mehr, ist ihr Debütalbum „Blood is Sharp“ doch bisher nur, und das nach erst nach nur einem Jahr Bandgeschichte, im Königreich erschienen. Die neu gewonnenen Fans können nun sehnlichst auf eine baldige Veröffentlichung in Deutschland hoffen. Einen Livemitschnitt vom Auftritt von Lost Alone gibt es auf youtube.!
Wie voll es in der Stadt bei Bochum Total tatsächlich ist, zeigt sich stets an der Zeit die man braucht, um beispielsweise von der Viktoriastraße zum Parkplatz an der Kerkwege zu kommen. Am Samstagabend war Geduld gefragt, tausende Besucher strömten aus verschiedenen Richtungen herbei, schon ab 20.00 Uhr gab es vor der HEiNZ-Bühne nicht mehr viel Platz. Vor aber auch hinter der Bühne wurde man langsam unruhig, scharrte beinahe mit den sprichwörtlichen Hufen, denn nach ihrem Auftritt beim Heimspiel-Festival in Meschede ließen es sich die Jungs von Dog Eat Dog erst mal unter der Dusche gut gehen. Bochum Total-Chef Marcus Gloria höchstpersönlich schaute an der HEINZ-Bühne vorbei: „Das Spektakel will ich mir nicht entgehen lassen.“ Die starken Männer von der Security schauten skeptisch in die Runde: „Das könnte hier gleich so richtig wild werden.“ Und dann ging’s los. Im VfL Bochum Trikot sprang Frontmann John Connor on stage, Dog Eat Dog legten los und zeigten dem Revier „Who’s the king“. Von der ersten Sekunden an sprang das Publikum mit, in der ersten Reihe wurden die alten Hits der Hardcore-Heroen aus New Jersey lauthals mitgegröhlt, Crowdsurfing war nie beliebter. Dave Neabore schaute in die Menge, entdeckte wohl in dem rockenden Mob ein bekanntes Gesicht, hob die Hand zum Gruß und hämmerte unmittelbar weiter auf seinen Bass sein. Keinen Bruchteil einer Sekunde herrschte Stillstand, die Songs vom neuen Album „Walk with Me“ waren mehr als eine Aufforderung zum Ausflippen, und lieferten wie die Dog Eat Dog-Hymne „No Fronts“ die musikalische Breitseite.
Die perfekte Mischung aus verschiedenen Musikstilen, das Wetter und die allseits friedliche Stimmung machten auch aus dem Samstag wieder den perfekten Festivaltag! Wer nun immer noch nicht getanzt hatte ergriff die Gelegenheit zum Salsa-Schnupperkurs oder schwang die Hüften bei der Funky Night im Schauspielhaus. Auch die Bierwagen mit den nach 3 Tagen totalem Ausnahmezustand immer noch gut gelaunten Zapfern erfreuten sich ungebrochener Beliebtheit. Am Sonntag geht’s dann ins Finale …
Mehr Infos gibt es auf www.bochumtotal.de
(sl/cj/mrc)