Herta Braun – mit den „3 Contys“ eine Trapezartistin der Weltklasse – lebt heute in einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke in Gelsenkirchen. Die Karte von Fredy Knie, die Illustriertenberichte und bunten Programmhefte – in einer abgewetzten Ledertasche warten sie darauf, Herta Brauns Erinnerung zu wecken.
Gelsenkirchen, im Mai 2006. Ein Fotograf kletterte bis unter die Zirkuskuppel, um „die Angst in den Gesichtern der Mutigen“ festzuhalten. Ihr Antlitz schaffte es bis auf die Titelseite – Herta Braun – heute 84 – zählte mit den „Contys“ zur allerersten Garde der fliegenden Menschen. Sie trat in Las Vegas auf, scherzte bei „Stars in der Manege“ mit Ingrid Steeger. Heute lebt Herta Braun mit ihrer Schwester Martha zurückgezogen in einer neuartigen Wohngemeinschaft für Demenzkranke, die die Familien- und Krankenpflege Gelsenkirchen Anfang April an der Hohenzollernstraße eröffnet hat.
Die Karte von Fredy Knie, die Illustriertenberichte und bunten Programmhefte – in einer abgewetzten Ledertasche warten sie darauf, Herta Brauns Erinnerung zu wecken. Manchmal, wenn sich Jürgen Herold, Geschäftsführer der Familien- und Krankenpflege, mit ihr unterhält, dann gelingt das für eine kleine, kostbare Weile. Herta Braun leidet an Demenz. Die Bilder der goldenen Artistenzeit ruhen tief verborgen in ihrem Gedächtnis. Wie ein verschollener Schatz, den sie sucht, aber nicht finden kann. Und doch: jetzt, wo sie mit Martha im Wintergarten des Gemeinschaftsraums sitzt, auf ihrem Sessel, den sie zusammen mit ihrem Mann Gerhard vor langer Zeit ausgesucht hat, beginnt sie plötzlich, aus ihrem abenteuerlichen Leben zu erzählen.
Vertrauen und eiserner Wille – darauf kam es an
Von ihren Auftritten im Orient und in Asien, den Engagements in Las Vegas, wo die Contys zusammen mit Siegfried und Roy im bekannten „Frontier Hotel“ das Showprogramm gestalteten. „Ich
habe auch Ingrid Steeger kennen gelernt. Es war so schön mit ihr zu arbeiten“, sagt Herta Braun. Zum ersten Treffen der beiden kam es in den siebziger Jahren bei einer Aufzeichnung zu „Stars in der Manege“ im Zirkus Krone. „Das Leben als Artistin war wunderbar, aber da oben mussten wir immer genau wissen, was wir tun“, so die Gelsenkirchenerin heute. Jeden Abend schwang die Gefahr mit. Ohne das Vertrauen zu ihrem Mann und den Willen, immer etwas besser zu sein als die anderen, hätte sie ihre mehr als dreißig jährige Karriere nicht ohne Unfall überlebt, sagt sie.
Mehr Zeit für die geliebte Schwester
An ihr Karriereende 1980 erinnert sich Herta Braun
mit einem weinenden und einem lachenden Auge. „Auf einmal ist man nicht mehr der Star, das ist schade. Dafür habe ich seit dem sehr viel Zeit für meine Schwester“, sagt sie. Nachdem die beiden im April in die Wohnstätte einzogen, wurde den Betreuern die starke Bindung der Geschwister schnell bewusst: „Sie sitzen gerne zusammen, kochen und spielen gemeinsam und teilen sich sogar ein großes Bett“, sagt Jürgen Herold. Für den Geschäftsführer der Familien- und Krankenpflege Gelsenkirchen ist die Vertrautheit, die Herta Braun hier aufgebaut hat, ein Beweis für den richtigen Betreuungsweg der Wohnstätte: Die demenzkranken Bewohner bekommen hier ihre festen Aufgaben, werden in einer vertrauten Umgebung gefordert. So ist es für die Betroffenen trotz ihrer Krankheit möglich, die Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis zu rufen und ihrer Umwelt für einen kurzen Moment den Blick auf eine glanzvolle Vergangenheit zu erlauben.
(jens Südmeier)
Fotos: Christoph Kniel