Das Ruhrgebiet steht vor einem neuen
Strukturwandel – Ein Gespräch mit
Dirk-Rolf Gieselmann, Geschäftsführer der Clinical House GmbH, Deutschlands
größtem Anbieter von Chirurgie-Implantaten, zu den Aussichten 2005.
Bochum, im Januar 2005. Die automobile Großindustrie befindet sich in einer Krise, wird die Gesundheitsbranche ihren Platz einnehmen? Für
Dirk-Rolf Gieselmann, Geschäftsführer der Clinical House GmbH in
Bochum, lautet die Antwort: Ja. Ende 2004 erwirtschaften bereits 4,1 Millionen
Beschäftigte 250 Milliarden Umsatzvolumen in der Medizinbranche.
Unbeeindruckt von Rezession und „Geiz-ist-geil“-Mentalität,
begünstigt von
der demographischen Entwicklung wächst die Gesundheitsbranche kontinuierlich
weiter. Clinical House, Deutschlands größter Anbieter von
Chirurgie-Implantaten, geht mit guten Beispiel voran: Um die Nachfrage nach
der neuartigen Bandscheibenprothese ProDisc bewältigen zu können,
wird das
Unternehmen die Zahl seiner bislang 100 Mitarbeiter im kommenden Jahr
kräftig aufstocken, im Januar bereits um zehn neue Arbeitsplätze.
Erwartet wird außerdem ein Umsatzzuwachs von 50 auf 75 Millionen Euro
bis 2007.
Opel und Karstadt wanken – die Sorge um den Arbeitsplatz verunsichert
die Menschen im Ruhrgebiet zum Jahreswechsel. Ganze Industrien fallen weg.
Kann
die Medizinbranche hier neue Hoffnung geben?
Wenn mich ein Jugendlicher oder
ein 50-jähriger Arbeitsloser heute fragt,
wo
es für ihn in Zukunft die besten Chancen auf dem Arbeitsmarkt gibt, dann
sage ich: in der Gesundheitswirtschaft. Sie bietet die besten Arbeits- und
Entwicklungschancen überhaupt. Die Medizinbranche ist längst größer
ist als
die Bergbau-, Computer- oder Automobilindustrie. 10,9 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes mit über 250 Milliarden Euro Umsatzvolumen wird
allein auf diesem Sektor erwirtschaftet. 2.000 Unternehmen mit 500.000
Mitarbeitern sind in NRW bereits am Markt. Die demographische Entwicklung
und die Überalterung der Gesellschaft fördern diese Entwicklung.
Ein
Beispiel: 1840 hatte eine Schwedin mit 45 Jahren die höchste Lebenserwartung
der Welt. Heute wird eine Japanerin im Durchschnitt 85 Jahre alt, nicht
zuletzt als Folge des medizinischen Fortschritts. Unsere dicht besiedelte
Region hat deshalb die große Chance, als „Medical Valley Rhein/Ruhr“ zum
Aushängeschild für ganz NRW zu werden.
München steht für Computer, Frankfurt für Banken, Hamburg für
Medien. Wofür
steht das Ruhrgebiet?
Selbst die Menschen in der Region denken bei dem Begriff Ruhrgebiet an
sterbende Großindustrie wie Opel & Co. Dieses schädliche Image
muss
schnellstens korrigiert werden. Schon heute kommt ein Großteil der
Innovationen und Technologien für die Gesundheitswirtschaft aus dem
Ruhrgebiet. Wer aber national oder international eine führende Rolle spielen
möchte, muss nicht nur die technologische Führerschaft innehaben,
sondern
auch Bedingungen schaffen, dass man von Investoren, Kliniken und Patienten
überhaupt wahrgenommen werden kann. Erst wenn das gelingt, kann ein
Bewusstsein dafür entstehen, dass das Medical Valley Rhein/Ruhr eine
Spitzenstellung einnimmt. Wenn schon in NRW kaum jemand weiß, wo und
was das
Medical Valley Rhein/Ruhr ist, woher sollen es dann Entscheider in Europa
oder USA wissen?
Entwicklung braucht Kapital, daran mangelt es im Ruhrgebiet. Wie können
Investoren für das Ruhrgebiet gewonnen werden?
Wo neue Industrien angesiedelt werden sollen, ist Kapital erforderlich, für
Forschung, Entwicklung, Ausbildung und Produktion. 53 Prozent der
Unternehmen im medizinischen Bereich werden durch ausländisches Kapital
gefördert. Wir müssen alles tun, um internationale Investoren davon
zu
überzeugen, dass es sich lohnt, im Ruhrgebiet zu investieren. Wir müssen
zeigen, welche Innovationen wir vor Ort zu bieten haben. Für junge
Unternehmer und Forscher muss es einfacher werden, von der Idee zum
vermarktungsfähigen Produkt zu kommen, Geldgeber zu finden und eine
Vermarktungschance zu entwickeln. Diese Schnittstellen zwischen Forschung
und Kapital zu optimieren ist eine Aufgabe der Wirtschaftsförderer. Das
Medical Valley Rhein/Ruhr bedarf auch der öffentlichen Förderung.
Erste
positive Tendenzen sind erkennbar, zum Beispiel die hervorragende
Repräsentanz von NRW auf der „Medica 2004“ in Düsseldorf.
Wie kann dieses Selbstbewusstsein sichtbar werden?
Das Medical Valley Rhein/Ruhr ist eine Premiummarke, die professionelle
Synchronisation von Nachfrage und Angebot lautet die Herausforderung. Raus
aus der Provinz, rein in die Welt von Aspirin, Porsche und Coca Cola ist die
Devise. Das Medical Valley Rhein/Ruhr muss in aller Munde sein, dafür
brauchen wir gute Öffentlichkeitsarbeit auf allen Ebenen. Auf allen
wichtigen Marktplätzen und Technologiebörsen der Welt muss es
unverwechselbar sein, – industriell, technisch, wissenschaftlich und
finanziell. Dafür benötigen wir Experten, die sich auf dem internationalen
Finanzparkett sicher bewegen. Wir brauchen eine gemeinsame
Vermarktungsstrategie und eine unmissverständliche Botschaft, landes-
und
kommunalpolitisch. Der Zug fährt in die richtige Richtung, er muss nur
viel
schneller fahren, wenn wir nicht als letzte ankommen wollen.
Welche Rahmenbedingungen müssen sich verändern?
Das Allerwichtigste ist, die Ansiedlung von Medizin- und
Medizintechnik-Unternehmen im Ruhrgebiet zu erleichtern. Noch kann man ein
Unternehmen zehnmal schneller in Dänemark oder Irland ansiedeln als in
Deutschland, von den Kosten für Arbeit ganz zu schweigen. Wir brauchen
mehr
Flexibilität im Arbeitsrecht und im Kündigungsschutz. Sonst sieht
die Sache
doch so aus: Firmensitz in Frankreich, Call Center in Irland, Logistik in
Holland. Die Wertschöpfung für Deutschland zu sichern – das
muss unser Ziel
sein. Wir erleben einen Bewusstseinswandel auf allen Ebenen. Einerseits
werden die Unternehmen nicht länger auf die Politik warten und neue Konzepte
entwickeln, andererseits begreifen Patienten die Tatsache, dass sich die
Krankenkassen immer stärker aus der Finanzierung von Gesundheit
zurückziehen, als Chance. Wer einen neuen Opel kauft, um Arbeitsplätze
in
der Region zu erhalten, erwartet dafür ja auch keine Finanzspritze vom
Staat. Das Gleiche gilt für die Medizinbranche: Wer in die eigene Gesundheit
investiert, sichert nachhaltig Forschung, Entwicklung, Ausbildung und Jobs
im Medical Valley Rhein/Ruhr – und gleichzeitig das eigene Wohlbefinden.
(Susanne Schübel)
Bildzeile:
200 Kliniken pro Tag versorgt die Clinical House GmbH in Bochum mit
chirurgischen Implantaten und Instrumenten, zum Beispiel für die
Knochenbruchbehandlung. Unser Bild zeigt Dirk-Rolf Gieselmann,
Geschäftsführer der Clinical House GmbH, im Aufbereitungsraum für
chirurgische Systeme.
Foto: Stefan Kuhn / press-image