„Wer oder was bin ich eigentlich – Deutscher oder Türke?“ – Diese Frage stellt sich der kleine Cenk, Enkel des in den 60er Jahren nach Deutschland eingewanderten Gastarbeiters Hüseyin Yilmaz. Wie viele andere lebt seine Familie seit nunmehr 40 Jahren in Deutschland, die Frage nach dem „Zuhause“ oder der „Heimat“ ist deshalb nicht ganz so leicht zu beantworten. „Almanya – Willkommen in Deutschland“ widmet sich dieser ganz besonderen Familiengeschichte humorvoll und ernsthaft zugleich. Doch statt eines schweren Dramas kann sich der Zuschauer auf eine frische Komödie mit Herz und einer gewaltigen Prise interkulturellem Tiefgang freuen, die seit Oktober als DVD und Blu-ray in den Ladenregalen steht.
[ruhr-guide] Die Schwestern Yasemin und Nesrin Samdereli vollbringen mit „Almanya – Willkommen in Deutschland“ ein kleines Kunststück: Wem es gelingt, Themen wie Migration, kulturelle wie religiöse Identität und Fragen nach Heimat und Staatsangehörigkeit humorvoll und doch absolut seriös, ernsthaft und vielschichtig zu behandeln, hat eine Leistung vollbracht, die aller Ehren wert ist. Bei der zumeist negativ-behafteten, tristen und bekümmernden Berichterstattung in jeglichen Medien grenzt es an ein Wunder, dass diese „culture-clash“-Komödie entstehen konnte. Sie erzählt gefühlvoll, mit Wärme und Liebe zu den Figuren, die Familiengeschichte von Hüseyin Yilmaz (Vedat Erincin), der als einemillionunderster Gastarbeiter irgendwann in den Sechzigern nach Deutschland kommt und bald die Familie nachholt. Heute leben er und seine Frau Fatma (Lilay Huser) zusammen mit den vier Kindern und ihren beiden Enkeln noch immer in Deutschland. Cenk, der jüngste Spross, steht völlig zwischen den Stühlen. Während der Opa sich zweifelsohne als Türke sieht, wandeln Eltern, Onkel und Tante zwischen den Welten. Er selbst weiss einfach nicht, ob er nun Türke oder Deutscher ist.
Road Trip mit der ganzen Familie
Als Hüseyin die ganze Familie zusammentrommelt um in die Türkei zu reisen, wo er ein Haus gekauft hat, will Cenk alles wissen. Wieso und weshalb Opa nach Deutschland kam, was die Türken von den Deutschen unterscheidet und und und … Cousine Canan (Aylin Tezel) erzählt daraufhin die ganze Geschichte – von damals bis heute. Regisseurin Yasemin Samdereli verfilmt mit „Almanya“ das Drehbuch ihrer Schwester Nesrin, die viele eigene Erfahrungen mit einfliessen ließ. Völlig unbeschwert und doch aussagekräftig entsteht so eine tiefgreifende Erzählung, die zwischen köstlich amüsant als auch bitterernst und traurig pendelt. „Almanya“ ist weitaus mehr als eine Komödie und doch bereitet sie die deutsch-türkischen Eigenarten mit einem ordentlichen Augenzwinkern auf. Aus heutiger Sicht wird die Ankunft des Familienoberhauptes im so fremden Deutschland gezeigt, die ersten Gehversuche und später die zögerliche Annäherung. Kulturelle Unterschiede wie auch religiöse und einfache Verhaltensunterschiede finden ihren Weg auf die Leinwand, wo sie zu einem tollen Mischmasch verbunden werden. Besonderer Kniff ist die Erzählung aus der Einwandererperspektive: Nicht nur die deutschen Sitten und Gegebenheiten erscheinen fremd, auch die Sprache hat ihre Tücken. Die Schwestern bieten auf diese Weise nicht nur eine emotionale Brücke zwischen Publikum und Charakteren, sondern vermitteln spannende wie heitere Eindrücke, wie der „Durchschnittsdeutsche“ auf Fremde wirken muss.
Frischer Wind
Bei der Berlinale außer Konkurrenz gezeigt, konnte „Almanya“ schon vor dem regulären Kinostart bei Kritik und Publikum punkten, später bezeichnete man die Geschichte als „Passender Film zur Intergrationsdebatte“. Nicht zuletzt wegen dieser Aktualität und seinem gänzlich frischen Blick auf die Thematik lockte das Werk zahlreiche Kinobesucher an und verschaffte sich erfreulich breite Beachtung. Und dies zurecht. Selten gab es einen Unterhaltungsfilm, der eine solches Fundament nutzt, um humorvoll aber nie albern ein ganz wichtiges Thema anzusprechen. Der Zuschauer sieht Menschen und kann mit ihnen fühlen, leiden und lachen. Die Geschichte bewegt und macht Mut. Kunstvoll – und niemals oberflächlich oder gefühlsduselig – wird die Geschichte der Einwanderergeneration mit der der jungen Nachkommen verwoben. Jeder hat seine eigenen Probleme und Herausforderungen, die bewältigt werden müssen. Ohne den erhobenen Zeigefinger, sondern klug und satirisch beweist der Film Fingerspitzengefühl. Eine Geschichte, die sich über Generationen zieht und aktueller nicht sein könnte, wurde selten derart ansprechend auf die Leinwand gebracht.
Sonderausstattung als vertiefende Elemente
Neben dem Film in bester Bild- und Tonqualität bietet die Blu-ray acht Minuten entfallene Szenen. In Interviews mit den Darstellern über ihre Rollen, den Film und dessen Entstehungsgeschichte kommen weitere wissenswerte Details zur Produktion zu Sprache. Über eine Laufzeit von ca. 30 Minuten führen Cast und Crew hinter die Kulissen dieser sehenswerten Produktion. Clips und Bilder erweitern das Gesehene, die B-Roll verschafft einen Eindruck, wie es am Filmset zuging, der Kinotrailer rundet die Sektion ab. Der blauen Scheibe liegt ein kleiner Sprachführer bei, sodass sich der Zuschauer auch in der türkischen Sprachversion, die neben der deutschen Audiospur ebenfalls enthalten ist, zurechtfindet. Beide Tonspuren haben das Audioformat DTS-HD Master Audio 5.1 (Deutsche Sprachfassung: türkische Passagen deutsch untertitelt, türkische Fassung: deutschsprachige Passagen türkisch untertitelt). Ein toller deutschsprachiger Audiokommentar von Yasemin und Nesrin Samdereli bietet die volle Informationsflut. Alles in allem kann sowohl der Film als auch die Blu-ray jedem Freund humorvoller und trotzdem anspruchsvoller Unterhaltung ans Herz gelegt werden. Erfreulich, dass ein dermaßen ausgereiftes Werk die deutsche Filmlandschaft um ein Vielfaches bereichert und quasi ganz nebenbei unmissverständlich Stellung bezieht.
Fotocredit: Concorde Home Entertainment
(mo)