„Enter the Void“ ist der neue Film des in Argentinien geborenen französischen Regisseurs Gaspar Noé, der 2002 mit seinem letzten Spielfilm „Irreversibel“ für Aufsehen sorgte. Noés Filme stossen nahezu immer auf harsche Reaktionen, er spaltet sein Publikum wie kaum ein anderer: Fasziniert die Einen sein künstlerisches Gespür für faszinierende cineastische Techniken, die seinen Werken eine unverwechselbare Optik beschert, verfluchen ihn andere für die kompromisslosen Bilder und verstörende Geschichten, die seine Filme beherrschen.
[ruhr-guide] Mit „Enter the Voird“ begibt sich der 47-jährige ins Jenseits. Der in Tokyo spielende Film zeigt die Nahtodvisionen eines traumatisierten Junkies, dessen Geist auch nach dem Ableben der Figur in verschiedenen Zeitebenen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umherwandert und dabei der Tragik seines irdischen Lebens nachgeht. Das visuell ausgefallene Werk strotzt nur so vor künstlerischen Bildern und vielschichtigen Eindrücken, die dem Zuschauer eine ganz und gar surrealistische Filmerfahrung garantieren. Die Neuerscheinung aus dem Hause „Capelight Pictures“ bereichert seit Ende Januar den deutschen Heimkinomarkt und ist als DVD, Blu-ray und in einer Limited Edition (DVD, BD plus Bonusmaterial auf einer Extra-Disc) erhältlich.
Junkie Oscar (Nathaniel Brown) lebt in Tokyo. Mit Dealen bestreitet er das nötige Kleingeld, große Ambitionen hat er nicht. Seit dem frühen Unfalltod der Eltern ist er auf sich allein gestellt, nur zu seiner Schwester Linda (Paz de la Huerta) spürt er eine enge Verbindung. Die heruntergekommenen Existenzen basieren auf dem Trauma des Verlusts, Oskar und Linda waren Insassen auf dem Rücksitz des Unfallautos, in dem ihre Eltern ums Leben kamen. Eines Tages wird Oskar beim Dealen geschnappt und erschossen. Doch wo andere Filmemacher den Schluss ihrer Streifen sehen, beginnt Gaspar Noés Trip ins Jenseits. Aus der Egoperspektive verfolgen die Zuschauer Oskars geistliche Reise, erleben flashartig seine Vergangenheit und sehen in Gegenwart und Zukunft. Die Erfahrung, welchen quälenden Geschehnissen er ausgesetzt war und wie ein solches, nahezu komplett kaputtes Leben aussieht, präsentiert Noé einmal mehr in radikalen, verstörenden und rätselhaften Bildern, die jedoch von feinster Komposition kreiert, optisch begeistern. Sie sind ein dynamischer Reigen voller ausufernder Farben, wilder Lichterspiele sowie hektischer und geschmeidiger Kamerafahrten. Das Gesehene erscheint oftmals wie im Flug inszeniert, ganz der Freiheit des körperlosen Geistes nachempfunden. Stroboskopische Blitze und spiralförmige Bewegungen prägen das Bild. Oskars Geist durchquert Zeit und Raum auf allen Ebenen. „Enter the Void“ ist mehr Trip als Film. Auch in diesem Aspekt kommt der Regisseur seinem Hauptcharakter Oskar nah, der nicht nur mit Drogen dealt, sondern diese auch ausufernd konsumiert!
Visuelle Kunst
Was sich wie eine wilde unkontrollierte filmische Achterbahnfahrt anhören mag, ist ein wahrer Kunstgriff des europäischen Programmkinos. Gaspar Noé gilt als Exzentriker, als Regisseur, der ohne Scheu seinem Publikum vieles zumutet. Der rückwärts erzählte „Irreversibel“ strotzt nur so vor Tabubrüchen, ist jedoch einer der kraftvollsten Filme des letzten Jahrzehnts. Noés Streifen sind nie und nimmer mit gewöhnlichen Kinofilmen vergleichbar und fernab jeder Unterhaltung. Das hier gebotene ist Programmkino par Excellence, welches dem kreativen Schaffen eines cineastischen Exzentrikers entstammt, der sich für die menschlichen Abgründe und die Grauzonen des Daseins interessiert. Bei aller – zum Teil auch angebrachter Kritik an Noés Schaffen – versteht er es zweifelsohne, immer wieder seine Filme visuell aussergewöhnlich in Szene zu setzten. Gerade „Irreversibel“ ist ein gestalterisches Wunderwerk und auch in „Enter the Void“ hat das „Regie-Enfant terrible“ Beeindruckendes fürs Auge zu bieten. Rein inhaltlich begrenzt sich der Streifen allerdings auf den überschaubaren Plot, der besagt dass Oskars Geist frei vom Körperlichen weiterhin existiert und diese Welt nicht verlässt. Aus diesem Wandeln zwischen der Welt und dem Jenseits zieht der Regisseur den Handlungsrahmen. Dabei stürzt Oskars bisheriges Leben mitsamt allen Dramen und Scheußlichkeiten über ihm ein. Nicht nur die künstlerische Gestaltung der exzessiven Bilder lassen den Schluss zu, dass sich „Enter the Void“ fast mehr wie ein Drogentrip seines Hauptakteurs anfühlt, als dass es hier um eine Erzählung geht.
Der faszinierende Film fliegt wild umher, zwischen dem Jetzt und Jenseits, zwischen aktuellen Geschehnissen nach dem Ableben der Figur bis in seine persönliche Vergangenheit sowie das künftig Bevorstehende. Die Geschichte ist schnell erzählt, doch die wahre Sogwirkung entfacht sie nur im Zusammenspiel mit den Bildern. Der Film ist ein wahres Erlebnis! Obwohl „Enter the Void“ ohne die extremen Szenen auskommt, durch die Noés vorangegangene Werke auffielen, ist „Enter the Void“ keinen Schritt weit seichter. Kompromisslos wird die Oskar-Figur seziert – seine innere, seit Kindestagen verletzte Seele schonungslos offengelegt. Dies alles verpackt mit rasanten Methoden der Bildgestaltung lassen den Trip vollkommen wirken, auf den sich der Zuschauer durch das Einlegen der Disc begibt.
DVD und Blu-ray mit unterschiedlichen Ausstattungsmerkmalen
Kommt sowohl Single-DVD als auch die Blu ray-Disc ohne Extras, erfüllen sich die Wünsche der Filmfans nach weiterführendem Bonusmaterial erst mit der Limited Edition. Das Mediabook beinhaltet die DVD und BD des Streifens sowie eine Extra-Disc, auf der entfallene Szenen, ein Making Of der Special Effects, DMT- und Vortex-Sequenzen sowie der Kinotrailer zu sehen sind. Wobei schon die DVD, der dieser Text zugrunde liegt, durch eine gute Bildqualität überzeugt, dürfte der wohl größte Nutzen durch die hochauflösende Blu-ray entstehen. Doch auch die DVD bildet Farben, Kontraste, Helligkeit und Schärfe in gutem Maße ab. Vor allem bei hauptsächlich dunklen Sequenzen offenbart der Silberling kaum Schwächen. Auch die Lichtblitze, Farbwellen und schnellen Bewegungen der brachialen Kamerafahrten sehen gut aus, verschwimmen nicht. Im Tonmenü gibt die DVD die Auswahl zwischen dem englischen Original und der deutschen Synchro, beide Spuren im Dolbyformat 5.1 sind für jede Anlage ein Vergnügen, da neben der visuellen Ebene auch die Tonebene so manches Schmankerl zu bieten hat. „Enter the Void“ ist ein Erlebnis für viele Sinne, doch für „Freizeitgucker“ eher unzugänglich da fordernd und anstrengend, wohingegen Filmkunstfreunde und Cineasten hier sicher glücklich werden. Noés Publikum muss bereit sein, sich unangenehmen und beschwerlichen Situationen zu stellen, werden dafür jedoch mit einem horizonterweiternden filmischen Kunstgriff belohnt, der seine Figuren weitaus besser vermittelt, als mancher gewöhnliche Mainstreamstreifen es vermag. Noés Mut, in Bereiche vorzustossen, die weit über denen gewöhnlicher Fliessbandkost liegen, sorgt für ausgefallene Mixturen aus Exploitation, Programmkino und anspruchsvoller Filmkunst.
(mo)
Bildquelle: Capelight Pictures