Was tun, wenn die bisherige wirtschaftliche Grundlage wegbricht? Vor dieser Frage steht das Ruhrgebiet nach der Kohlekrise Ende der 1950er Jahre. Es wird abgewartet, es werden Projekte vorgeschlagen und schließlich wird auch etwas getan. In jahrelanger harter Arbeit durchläuft das Revier einen Strukturwandel, in dem sich sein Gesicht um 180° dreht. Das Schöne daran; wenn man zurück schaut, sieht man hier und da noch Spuren der Vergangenheit.
[ruhr-guide] Im Zuge der Montanindustrie ist das Ruhrgebiet zum größten Ballungsgebiet Europas geworden. Doch die Kohlekrise ab 1958 läutet das Ende dieser bedeutenden Ära ein. Durch einen Strukturwandel muss sich der Kohlenpott wirtschaftlich neu ausrichten. Die Möglichkeiten der Produktion gehen zurück. Der Fokus wird mehr auf Bildung und den Dienstleistungs-sektor gelegt. Vernachlässigte Bereiche wie Kunst und Kultur, Forschung und Bildung sowie das Bewusstsein für Natur und Lebensqualität erlangen neue Bedeutung.
Das Ruhrgebiet – Von der Entstehung zur Industrialisierung
Das Ruhrgebiet – Vom Industriestandort zum Kulturstandort
Ursachen des Strukturwandels im Ruhrgebiet
Der Strukturwandel im Ruhrgebiet verändert das bis dahin bestehende Wirtschaftssystem aufgrund neuer ökonomischer und technischer Rahmenbedingungen. So hat sich das Revier in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer Montanindustrie – Kohlenbergbau und Stahlindustrie – zu einer Dienstleistungsregion und einem Standort für Bildung und Kultur entwickelt.
Aufgrund der hohen Preise für Ruhrkohle sinkt Ende der 1950er Jahre die Nachfrage, was die Industrie in eine Krise stürzt, aus der sie sich nicht mehr erholt. Da das Ruhrgebiet in seiner Monostruktur allein auf die Kohleförderung und die vor- und nachgelagerten Wirtschaftszweige ausgerichtet ist, trifft diese Krise die gesamte Region und ein Wandel gestaltet sich zunächst schwer. Vorerst wird an alten Strukturen festgehalten, schließlich hat die Region 150 Jahre lang von der Kohle leben können und schon andere Krisen überlebt. Wieso sollte das jetzt anders sein?
In den 1960er Jahren setzt man sich langsam mit der neuen Situation auseinander, so dass ein Strukturwandel möglich wird. Während der Zeit der Montanindustrie sind Bildung, Kultur, Landschaftspflege und Angebote zur Naherholung im Ruhrgebiet vernachlässigt worden. Es gibt keine Universität und die meisten Menschen haben weder einen hohen Bildungsabschluss noch eine gute Ausbildung, da dies bisher nicht nötig war. Die Natur ist zersiedelt und zerstört. Das muss sich ändern!
Beginn des Strukturwandels im Ruhrgebiet
Ein erster Schritt Richtung Strukturwandel ist das „Entwicklungsprogramm Ruhr 1968-1973“, das am 5. März 1968 durch die Landesregierung NRW veröffentlicht wird. In diesem mittelfristigen Handlungsplan ist eine Umgestaltung des Ruhrgebiets festgelegt. So beinhaltet das Programm zum Beispiel den Ausbau des S-Bahn- und des Straßennetzes. So sind Knotenpunkte der Schnellbahn in dicht besiedelten Gegenden und der Bau von ca. 500 km „vierspuriger autobahnähnlicher Straßen“ geplant. Wer jedoch regelmäßig auf den Autobahnen oder mit der Bahn im Ruhrgebiet unterwegs ist, mag sich hingegen fragen, ob hier nicht ein weiterer Strukturwandel nötig wäre, bei dem nicht nur autobahnähnliche Straßen errichtet würden. Dann würde die A40 vielleicht auch wieder ihren Beinamen „Ruhrschleichweg“ los.
Ein weiteres Ziel des Entwicklungsprogramms ist die Schaffung eines insgesamt „höheren Wohnwertes“ im Ruhrgebiet. Dies soll durch die Entwicklung neuer regionaler Erholungsräume, wie zum Beispiel dem Ausbau des Kemnader Stausees und der Errichtung mehrerer Freizeitparks, und die Verbesserung der Luft erreicht werden. Die „schwarze Lunge“ soll wieder atmen können. Des Weiteren ist die Pflege von Grün- und Waldflächen, das Abreißen oder Renovieren alter Gebäude und Planieren brachliegender Gelände in Planung, um zum einen das „äußere Erscheinungsbild des Ruhrgebiets systematisch [zu] verbessern“. Zum anderen sollen diese Projekte Arbeitsplätze schaffen, denn besonders diese fehlen nach der Kohlekrise. Was in der Planung so einfach klingt, soll in der Umsetzung jedoch mehrere Jahrzehnte brauchen.
Die Bergbau-Hochburg Ruhrgebiet zieht während der Industrialisierung viele Menschen an. Doch genau diese traditionellen Industriesektoren müssen aufgrund der Krise zahlreiche Arbeiter entlassen. Sowohl der Kohlebergbau als auch der Bereich für Eisen und Stahl verzeichnen zwischen 1976 und 1998 jeweils Rückgänge der Beschäftigten um weit über 60%. Durch staatliche Subventionen soll der finanzielle Schaden, der durch die rückläufige Steinkohleförderung und die Stahlindustrie entsteht, begrenzt werden.
Neue Beschäftigungsfelder und Gründung von Universitäten
Ein Blitz entflammt 1962 wieder neue Hoffnung in Bochum; der Autohersteller Opel errichtet drei Automobilwerke in der Stadt und schafft somit zahlreiche neue Arbeitsplätze. Des Deutschen liebstes Kind erweckt die Wirtschaft der Stadt wieder zum Leben. Dank erfolgreicher Modelle wie dem in Bochum produzierten Kadett schafft es Opel in den 1960er und 1970er Jahren als Marktführer an die Spitze der Deutschen Autohersteller.
Im Laufe der Jahre steigen die Zahlen der Beschäftigten wieder, in dem sich spezielle neue Beschäftigungsfelder auftun. So gründen sich beispielsweise durch den „Internet-Boom“ in den 1990er Jahren zahlreiche Internetfirmen und Telekommunikationsanbieter. Auch der ehemalige Stahlerzeuger Mannesmann baut Anfang der 1990er mit Mannesmann Mobilfunk sein eigenes Mobilfunknetz (D2) auf. Besonderen Zuwachs kann der Dienstleistungssektor verzeichnen; die Beschäftigtenzahlen im Gastgewerbe, in der Gebäudereinigung und im Gesundheitswesen steigen. Letzteres entwickelt sich – neben der Logistikbranche – zum größten Arbeitgeber des Reviers.
Ebenfalls im Entwicklungsprogramm festgelegt ist der Aus- und Aufbau von Schulen und Universitäten. Schon während der 1960er Jahre geht das Revier auch einen wichtigen Schritt Richtung Forschungsstandort. Mit der Ruhr-Universität Bochum wird 1962 die erste Universität des Ruhrgebietes gegründet. Die Universität Dortmund folgt kurze Zeit später. Hinzu kommen 1972 die Gesamthochschule Duisburg und die Gesamthochschule des Landes Nordrhein-Westfalen in Essen. Durch die Gründung weiterer Universitäten und Fachhochschulen entwickelt sich das Ruhrgebiet zu einem leistungsfähigen Bildungs- und Forschungsstandpunkt.
Aufbau einer Kulturlandschaft
Es ist nicht so, als sei der Kohlenpott bis in die 1960er Jahre gänzlich kulturlos gewesen. Museen, entwickeln sich im Ruhrgebiet vereinzelt zwar schon während der Montanindustrie, doch als die Stadt Essen in den 1920er Jahren bereits das Grillo Theater, die Philharmonie Essen und das Folkwang Museum aufweisen kann, stellt dieses kulturelle Angebot eine absolute Ausnahme im Ruhrgebiet dar.
Die wenigen Theater und Opernhäuser, die das Ruhrgebiet zur Zeit der Montanindustrie bereits besitzt, werden zudem im zweiten Weltkrieg zerstört, so zum Beispiel das Schauspielhaus Bochum, das Deutsche Bergbau-Museum in Bochum und die Philharmonie in Essen. Besonders ab den 1950er Jahren werden viele dieser Häuser wieder aufgebaut. Hinzu kommen neue Kulturstätten. So wird mit dem Museum Ostwall in Dortmund 1947 eines der ersten deutschen Nachkriegsmuseen gegründet. Doch erst der Strukturwandel gibt dem Aufbau einer reichen Kulturlandschaft Aufschwung, denn ebenso wie Bildung wird Kultur in den Jahren der Monostruktur vernachlässigt.
Dass viele Museen und Ausstellungshallen erst nach dem Ende der Montanindustrie gegründet werden, liegt nicht nur an der langen Vernachlässigung der Kultur, sondern auch daran, dass Gelände, Gebäude und Geschichte dieser bedeutenden Ära selbst zum Gegenstand der Kultur werden. So wird zum Beispiel 1977 das Eisenbahnmuseum in Bochum-Dahlhausen auf dem Gelände eines 1969 stillgelegten Bahnbetriebswerkes gegründet.
Im Jahr 1979 entsteht das erste Museum für Industriekultur vom Landschaftsverband Westfalen Lippe (LWL). Mit acht Standorten – darunter das Schiffshebewerk Henrichenburg bei Waltrop, die Zeche Nachtigall in Witten und die Henrichshütte in Hattingen – ist es mittlerweile das größte Industriemuseum Deutschlands.
Ein ähnlich großes Projekt ist das Rheinische Landesmuseum für Industrie- und Sozialgeschichte, das 1984 vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) gegründet wird. Von seinen sechs Standorten am Rhein liegt auch einer im Revier – in Oberhausen. Dieser besteht wiederum selbst aus einzelnen Punkten, zu denen u. a. die St. Antony Hütte, die Arbeitersiedlung Eisenheim, die Zinkfabrik Altenberg und der Museumsbahnsteig auf Gleis 4 und 5 des Hauptbahnhofs gehören.
IBA Emscher Park
Große Anteile an dem Wandel im Ruhrgebiet hat die Internationale Bauausstellung Emscher Park (IBA Emscher Park), die von 1989 bis 1999 neue Nutzungsmöglichkeiten für ehemalige Industriebrachen, Zechen, Kokereien oder Stahlwerke erarbeitet hat. So soll sie durch städtebauliche, kulturelle, soziale und ökonomische Pläne und Projekte innovative Impulse für den wirtschaftlichen Wandel geben. Konkrete Projekte werden öffentlich gefördert, bieten neue Arbeitsplätze und Qualifizierungsmöglichkeiten.
Ein besonders großes Projekt innerhalb der IBA ist die Errichtung eines Grünzuges entlang der Emscher. Die durch die Montanindustrie zersiedelte und zerstörte Landschaft des nördlichen Reviers soll durch neue Grünflächen wieder hergestellt werden. Auf einer Fläche von 300 km² werden einzelne Landschaftsabschnitte zu einem zusammenhängenden Grünstreifen verbunden. Grundlage hierfür sind sieben in Nord-Süd-Richtung verlaufende Grünzüge, die bereits in den 1920ern angelegt worden sind. Diese sollen durch einen neuen in Ost-West-Richtung verlaufenden Grünzug zusammengeschlossen werden. Um dieses Naherholungsgebiet weiter auszubauen, werden zusätzlich Wander- und Radwege geschaffen.
Des Weiteren soll die Emscher renaturiert werden. Zu Zeiten der Montanindustrie dient sie als Kloake, da Bergwerke ihr Abwasser und Grubenwasser in den Fluss abfließen lassen. Die Nordwanderung des Bergbaus macht schließlich eine Renaturierung möglich. Zunächst werden Abwasserkanäle in dieser Region unterirdisch verlegt und moderne Kläranlagen wie in Bottrop und Dortmund sorgen für die Reinigung des Wassers. Schließlich soll der natürliche Wasserkreislauf gestärkt werden.
Neue Nutzung industrieller Standorte
Unter dem Motto „Arbeiten im Park“ werden auf ehemaligen Industrieflächen neue Gewerbe- und Dienstleistungsparks ebenso wie Gründer- und Technologiezentren errichtet. Von besonderer Relevanz sind hierbei die Grünflächen, die einen Anteil von 50% am Gesamtgelände betragen. Darüber hinaus wird auf hohe architektonische Qualität Wert gelegt. An 22 Standorten mit insgesamt 530 Hektar Fläche sollen solche Projekte realisiert werden.
Um auch im Bereich „Wohnen“ eine höhere Lebensqualität zu erreichen, werden im Zuge der IBA Emscher Park sowohl ehemalige Arbeitersiedlungen saniert als auch neue Siedlungen unter bestimmten sozialen, städtebaulichen, ästhetischen und ökologischen Gesichtspunkten neu errichtet. Besonders Familien und Alleinerziehende mit Kindern sollen sich in den Gartenstädten zu Hause fühlen.
Zeugen der industriellen Ära, die über 150 Jahre lang das Gesicht des Ruhrpottes geprägt hat, werden während des Strukturwandels zum einen als Orte der Industriekultur zu Denkmälern oder Schauplätzen für Kunst umgebaut oder machen Platz für neuen Wohnraum. Beispiel für das erste sind die Zeche Zollverein in Essen, der Landschaftspark in Duisburg und das Tetraeder in Bottrop.
So sollen Denkmale der Industrie erhalten und gepflegt werden. Viele ehemalige Industriebauwerke beheimaten heute Museen, Ateliers und Ausstellungshallen, so zum Beispiel die Zeche Zollverein, die mittlerweile zum UNESCO Weltkulturerbe zählt, der Gasometer in Oberhausen oder das Dortmunder U, ein ehemaliges Brauereigebäude, in Dortmund. Um die wichtigsten dieser Kulturdenkmäler miteinander zu vernetzen, wird ab 1999 die Route der Industriekultur errichtet.
Beispiele für die Gestaltung neuen Wohnraums sind der Krupp-Gürtel in Essen und der Phoenix-See in Dortmund. Als besonderes Symbol des Strukturwandels im Ruhrgebiet gilt das CentrO, die „Neue Mitte Oberhausen“.
Im Zuge des Strukturwandels hat sich das Gesicht des ehemaligen Kohlenpotts stark verändert. Aus einer niedergegangenen monostrukturierten Montanindustrie werden im Revier Bildung und Kultur geschaffen. Durch neue Projekte und die Ausrichtung am tertiären Sektor entstehen nach und nach neue Arbeitsplätze. Die jahrelang zerstörte und vernachlässigte Natur wird wieder gepflegt und geschützt. Auch wenn dieser lange Prozess auch nach 50 Jahren noch nicht vollständig abgeschlossen ist, so zeigt er deutlich seine Spuren in dem veränderten Bild des Ruhrgebiets.
(mg)
Fotocredit:
Junger Bergmann nach der Schicht in Kamp-Lintfort, ca. 1955: LWL/Windstosser
Das neue Opel-Werk in Bochum, 1962: © GM Company
Bau der Ruhr-Universität Bochum, 1968: Universitätsarchiv Bochum, Dep. Staatliches Bauamt Bochum 02
Lokparade vor dem historischen Ringlokschuppe: Eisenbahnmuseum Bochum-Dahlhausen
Architekturzeichnung für das Portal der Maschinenhalle von Bruno Möhring: LWL
Phoenix-See: PHOENIX See Entwicklungsgesellschaft